„Warum gibt es ein solches Institut nicht längst?“

Interview mit Michael Hirz, Journalist und ehem. Programmgeschäftsführer Phoenix

IwP: Immer häufiger werden politische Entscheidungen abgestützt oder initiiert durch wissenschaftliche Studien. Besondere Sichtbarkeit erfährt dies innerhalb der Pandemie, aber auch bei der Klimapolitik. Welche Rolle spielt Ihrer Einschätzung nach „die Wissenschaft“ für die Politik?

Michael Hirz: Eine große und sie ist nach meinem Eindruck in den letzten Jahren noch gewachsen. Keine Politik kommt bei wichtigen Entwicklungen und Entscheidungen aus ohne wissenschaftlichen Rat. Das gilt von Klimapolitik und Energiewende bis zur Wirtschaftspolitik.

IwP: Ist dies ein Phänomen das speziell mit der modernen Wissensgesellschaft einhergeht oder findet hier auch eine Verschiebung von Kompetenzen statt?

Michael Hirz: Das ist meines Erachtens keine Entweder-oder-Frage. Vielmehr hängt das eine mit dem anderen zusammen. Der Vormarsch der Wissensgesellschaft hat den Spielraum freier, aber auch weniger fundierter Entscheidungen in vielen Fragen eingeengt.

IwP: Politiker – auch die „ahnungslosen“ – werden vom Volk gewählt. Hierdurch erfahren sie ihre Legitimation für die Entscheidungen, die sie als Repräsentant des Volkes zu treffen haben. Dies gilt nicht für Wissenschaftler – auch nicht für jene, die die Politik unmittelbar und einflussreich beraten. Wie ist dies aus demokratietheoretischer Sicht zu beurteilen?

Michael Hirz: Das ist ein durchaus kritischer Punkt. Es besteht die Gefahr, dass unter Verweis auf „wissenschaftliche Erkenntnisse“ Sachzwänge konstruiert werden, die eine freie Entscheidung von Parlamenten zumindest erschweren. Ergebnis wäre ein Trend zu einer demokratisch nicht legitimierten Expertokratie, Wissenschaft könnte aber auch für manipulatives Handeln missbraucht werden.

IwP: Im aktuellen Landtagswahlkampf in NRW gab es von Seiten der CDU große Empörung, weil im WDR eine Politikwissenschaftlerin den aktuell laufenden NRW-Wahlkampf kommentiert hat. Wie sich herausstellte, ist die Wissenschaftlerin selbst aktives SPD-Mitglied, was jedoch nicht kenntlich gemacht wurde. Wie beurteilen Sie den Einsatz wissenschaftlicher Experten in bzw. durch die Medien?

Michael Hirz: Zur Beurteilung komplexer Fragen in der öffentlichen Debatte – also in den verschiedenen Medien – ist die Stimme von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern kaum verzichtbar – sie sind wichtige Teilnehmer des öffentlichen Diskurses. Für die Kuratoren des Diskurses, also Journalistinnen und Journalisten, gehört zur Verantwortung, bei der Auswahl von Experten eine besondere Sorgfalt walten zu lassen. Dazu braucht es maximale Transparenz. Gäste von Sendungen, zitierte Wissenschaftler und Studien müssen für das Publikum deutlich erkennbar eingeordnet werden. Dazu gehören mögliche Abhängigkeiten, weltanschauliche Bindungen, wissenschaftliche Reputation, mögliche Lobby-Interessen.

Kritisch muss angemerkt werden, dass häufig aus unterschiedlichen Gründen gegen die zwingende Sorgfaltspflicht verstoßen wird bei der Einladung wissenschaftlicher Experten. Das geschieht aus unterschiedlichen Gründen: Es mangelt in der einladenden Redaktion gelegentlich an Kompetenz, so dass man auf Figuren zurückgreift, die anderswo schon zu sehen/hören/lesen waren. Ursache dafür kann eine finanziell und personell ausgeblutete Redaktion sein. Oder das Kriterium ist eine besondere Medientauglichkeit des jeweiligen Wissenschaftlers, unabhängig von seinem wissenschaftlichen Renommee. Auch begünstigt eine populäre, besonders exponierte wissenschaftliche Meinung eine Einladung, weil sie zu Klicks, Auflage und Quote verhilft – unabhängig davon, ob sie den jeweils fachlichen Konsens und wissenschaftlich akzeptierten Kenntnisstand repräsentiert oder nicht.

Die Medien-Mechanik bewirkt zu dem, dass die öffentliche Aufmerksamkeit auf einzelne Wissenschaftler fokussiert, die dann als Repräsentanten „der Wissenschaft“ wahrgenommen werden. Sie legitimieren oder delegitimieren politische Entscheidungen. Gerade die Pandemie hat aber gezeigt, dass Wissen und Erkenntnis zum einen fortschreiten und dass zum anderen Teildisziplinen (wie die Virologie) der Komplexität einer Pandemie mit ihren sozialen, wirtschaftlichen und psychologischen Auswirkungen nicht gerecht werden können. Politik hingegen muss bei ihrem Handeln diese Komplexität einbeziehen. In der Berichterstattung wird das jedoch häufig verkürzt.

IwP: Auch jenseits von Fragen der Unabhängigkeit bzw. Unbefangenheit durch befragte Experten ist im Laufe der Corona-Pandemie eine Debatte über mediale Darstellungsformen wissenschaftlicher Diskurse entbrannt. Wie beurteilen Sie das Thema „false balance“, welche Auswirkungen hat es für die journalistische Arbeit? Was braucht es für die Zukunft?

Michael Hirz: : Ein wichtiges journalistisches Kriterium ist der Anspruch, in der Berichterstattung auch die Gegenseite zu Wort kommen zu lassen. Das hat allerdings dort seine Grenze, wo wissenschaftliche Positionen große Berücksichtigung finden, die sich komplett aus dem Konsens der jeweiligen Fachdisziplin gelöst haben. So würde heute wohl kaum jemand daran zweifeln, dass die Erde eine Kugel und keine Scheibe ist. Beim aktuellen Thema Klimawandel hat sich ein breitestmöglicher Konsens in der wissenschaftlichen Debatte herausgebildet. Dennoch hat es bis vor einigen Jahren mediale Darstellungen gegeben, die eine konträre Position quasi gleichberechtigt daneben gestellt haben. Hier ist es wichtig, dass Journalismus seiner Aufgabe zur Einordnung nachkommt. Natürlich kann u.U. auch der Vertreter einer extremen Minderheitenposition Teil der Berichterstattung sein. Er muss aber entsprechend eingeordnet werden. Auch die weiter oben beschriebenen Maßnahmen – Interessen, Reputation, Abhängigkeiten etc. zu prüfen – sind für die Berichterstattung elementar.

IwP: Welche Funktion kann oder soll/kann das neu gegründete Institut für wissenschaftliche Politikberatung in dieser Hinsicht Ihrer Auffassung nach spielen?

Michael Hirz: Gegenfrage: Warum gibt es ein solches Institut nicht längst? Eine solche Einrichtung kann von ganz erheblicher Bedeutung für das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft sein, denn sie schaffte eine Transparenz, die bisherige Verhältnisse ausleuchten könnte. Das schaffte Vertrauen und würde erheblich zur Orientierung bei der Meinungsbildung beitragen.